Ich traute meinen Augen nicht, als ich letzte Woche (KW 15/2024) in der Presse einen Artikel las (in der Westfälischen Rundschau), wo behauptet wurde, dass es in der Schule nicht mehr wichtig sein soll, auf die Einhaltung von Rechtschreibregeln zu achten. Der Inhalt sei viel wichtiger. OK, kann man machen, ist aber scheiße. Wer soll denn diesen Murks dann noch lesen können? Es ist doch schon schwierig genug, all diese Krakel-Handschriften zu entziffern, und wenn dann auch noch Fehler über Fehler hinzukommen, tun mir die Lehrer schon leid. Der Protest müsste viel, viel lauter sein!
Ich bin Jg. 1964. Wir hatten noch das Fach „Handschrift“ im Zeugnis (!). Wer krakelte, hatte ein Problem. Wir übten, statt Wörter zu schreiben, erst mal Wellen und Krückstöcke malen. Schon die Klasse meiner drei Jahre jüngeren Schwester war das Testgelände für eine andere Technik des Schriftspracherwerbs. Irgendwann schien Handschrift nicht mehr wichtig zu sein, die Notengebung wurde abgeschafft. Dann kam die Rechtschreibreform, die alle in Verwirrung stürzte. Einige Regelungen wurden wieder zurückgenommen, weil sie doch als zu unsinnig rüberkamen. Das vergrößerte die Verwirrung noch einmal. Ja, was denn nun? „das, dass oder daß“? Grüße oder Grüsse? Straße oder Strasse? Delphin oder Delfin? Thunfisch oder Tunfisch? Getrennt, zusammen, groß, klein – keine Ahnung, ist mir auch egal, ich schreib das eh, wie ich will – schienen viele zu denken.
Was „der Duden“ ist, weiß mittlerweile wohl kaum noch jemand. Dass es Online-Tools gibt, die dem Schreiberling helfen, weiß im Computer-Zeitalter anscheinend auch kaum noch jemand, denke ich manchmal, wenn ich Texte lese, über die ich nur noch lachen oder heulen kann. Man hat sozusagen alles auf dem Finger, aber keiner bewegt sie in die richtige Richtung. Diese roten Pünktchen unter einem Wort, das die Software nicht kennt… Schon mal gesehen? Wozu sind die Pünktchen da? Dekoration wird es wohl nicht sein…
Schade um die Sprache. Wir sind übrigens Spitzenreiter. Wenn ich im Ausland bin und einheimischsprachige Texte lese, fallen mir viel weniger Fehler auf als hierzulande. Was im Ausland allerdings stark auffällt, ist, dass zum Beispiel in Museen die Übersetzung ins Deutsche lustige Beispiele herausbringt. Aber die Museumsbetreiber anzuschreiben bringt überhaupt nichts. Sie antworten nicht. Und überprüfen, ob sich was geändert hat, entfällt bei mir, weil die Welt einfach zu groß ist und ich selten nochmal an den Ort des Geschehens zurückkehre. Und ich bin auch nicht der Einzige, dem sowas auffällt. Ich war das hier jedenfalls nicht (Kathedrale in Nancy):

Und das, obwohl es heutzutage Übersetzungstools gibt, die man auch in Frankreich nutzen kann. Wie der Ersteller dieses Zettels auf Feier kommt, ist mir mystérieux, weil Gottesdienst ja office oder messe heißt, und Feier ist eine fête oder célébration. Nachschlagen hilft. Und ich weiß auch um seine WORD-Einstellungen. Das Häkchen bei „jeden Satz mit einem Großbuchstaben beginnen“ ist hier jedenfalls gesetzt. Puh.
Auch wird hier einem ganzen Berufsstand, was red‘ ich, ganzen Berufsständen der Garaus gemacht: Lehrer, Korrektoren, Journalisten, Texter (Liste mit Sicherheit nicht vollständig) sind zumindest für die Fehler, die die Kinder machen, nicht mehr zuständig. Wozu soll man sie noch in Rechtschreibregeln unterrichten, wenn die später sowieso nicht mehr berücksichtigt werden? Wir wischen uns bald sowieso noch Blasen an die Fingerkuppen. Auch die Aussage (in dem Artikel in der WR), dass man sich ja dann auch bald den Fremdsprachenunterricht sparen könne, weil die KI ja dafür da ist, sich verständlich zu machen, erzeugt bei mir Nackenschmerzen infolge des Kopfschüttelns. Jedes KI-Tool ist übrigens nur so gut wie der Programmierer, der sie erschafft, erzeugt, mit Inhalt füllt.
Keep cool and learn languages – first of all your mother tongue!
Ich frage mich, ob dieses bewusste Heruntersetzen von Standards auch in Mathematik, Physik und Chemie und anderen Naturwissenschaften greifen könnte. Wenn ich also sage „Grammatik? Mach‘ ich immer nach Gefühl!“, würde ich dann auch so rechnen können? Nach Gefühl? Oh, mein Gehalt stimmt nicht, ich fühle, dass ich viel zu wenig kriege! Was??? 15 € für die Pizza? Ich fühle, dass das zu teuer ist, ich gebe nur 10. Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Warum werden bei Sprache diese Abstriche gemacht, bei Zahlen aber nicht?
Mal abgesehen davon, dass das Erlernen von Sprachen ja auch Erfolgserlebnisse bietet! Wie toll ist das Gefühl (da ist es wieder, das Gefühl), wenn man sich im Ausland einen Satz oder einen ganzen Text zurechtgelegt hat, ihn vorbringt und ANTWORT BEKOMMT! Man wurde verstanden. Grins! Hab ich wohl was richtig gemacht. Klasse! – Problem nur: Die Antwort ist dann oft so schnell und umfangreich, dass man abwehren muss: „Doucement! Mon Français n’est pas parfait…“ Der Angesprochene glaubt, sein Gegenüber ist der Fremdsprache mächtig – ist aber nicht so. Naja, Geduld. Man wächst mit seinen Aufgaben.
Ich freue mich schon auf die ratlosen Gesichter von Menschen, die in etwa so alt sind wie ich (plus/minus ein paar Jahre), wenn uns demnächst Texte um die Ohren gehauen werden, die wir erst mal mühsam entziffern müssen. War da nicht mal was? Wie hieß der Typ noch gleich, der diesen schriftsprachlichen Wildwuchs in den deutschen Provinzen glattbügeln wollte und das zum großen Teil auch geschafft hat? Ah, ja! Der Herr Duden. Konrad Duden, man erinnert sich vielleicht noch seiner, immerhin starb er schon 1911. Er hatte damals (es war gegen Ende des 19. Jahrhunderts) die fixe Idee, diese uneinheitliche Schreibweise von Wörtern und Texten zu vereinheitlichen. Er ersann in mühevoller Kleinarbeit (er hatte ja noch keinen Computer, der ihm dabei hilft) Regeln und Systematiken, und heraus kam eine erstaunlich gut funktionierende Schriftsprache. Ja, man musste nun lernen, wie diese Regeln funktionieren. Lernen ist mühsam, ich weiß. Aber Rechtschreibung, das habe ja sogar ich geschafft! Mit der Diktat-Note im Deutschunterricht konnte ich sogar meine Gesamtnote noch ein bisschen nach oben schieben, weil Aufsatz, Gliederung und der ganze Kram – wozu sollte das denn gut sein (dachte ich damals). Komisch, eigentlich, denn ich las doch ganz gerne.
Ich habe momentan ein 9jähriges Mädchen als Lese-Schülerin. Wir üben lesen und schreiben, Verben konjugieren und Sätze bilden, spielen sogar Scrabble. Als ich sie letzte Woche mit einem Diktat „malträtieren“ wollte, fragte sie: „Was ist das denn?“ Oje. Ich schob ihr ein Blatt hin, sie nahm einen Stift, und ich las ihr den ersten Satz vor. Wie man das so macht beim Diktieren. Man liest einen Satz vor und wiederholt dann, bis man sieht, dass schon Text auf dem Blatt geschrieben steht. Sie kritzelte in ihrer Druckschrift-Schrift großformatige Buchstaben aufs Blatt. Ich bat sie, doch etwas kleinere Buchstaben zu schreiben und darauf zu achten, dass sie in der Linie bleibt. Ich meine, sie ist in der dritten Klasse. Was machen die denn da den ganzen Tag? So kann man doch nicht arbeiten! (Man muss dazu wissen, dass ihre Eltern beide aus einem Land stammen, wo Deutsch nicht die Amtssprache ist.) Wer keine Diktate mehr schreiben lässt, nimmt den Kindern eine Möglichkeit, sich in Konzentration zu üben. Das kommt alles nicht von alleine!
Wie soll das werden? Sie muss noch die vierte Klasse absolvieren und kommt dann in eine weiterführende Schule. Wenn das jetzt noch nicht richtig klappt mit dem Schreiben (Lesen geht so einigermaßen, aber ihr fehlt halt die Routine), wird ihr das ihr Leben lang nachhängen. Was sie jetzt nicht lernt, bleibt später auf der Strecke. In der Grundschule müssen die Grundlagen gelegt werden. Später gibt es Fächer, die ohne Lesen und Schreiben nicht funktionieren, da kann man noch so wild auf dem Tablet hin und her wischen!
Ich mache mir größte Sorgen um die Bildung unseres Nachwuchses. Lesen und Schreiben sind elementar wichtig für alles, was noch kommt! Die Zahl der funktionalen Analphabeten wird nicht kleiner, wenn das Lesen und Schreiben schon in der Grundschule nicht an vorderster Stelle steht. Und jetzt sollen noch die Fehler als völlig unwichtige Nebensache abqualifiziert werden???
Noch was: Die Kinder lernen ja heute gar keine Schreibschrift mehr. Heute heißt das „Vereinfachte Ausgangsschrift“. Das sind mehr oder weniger Druckbuchstaben, aneinandergereiht. Wie soll sich mit diesem Schreibstil jemals eine fließende Handschrift entwickeln? Die braucht man aber. Man kann nicht immer und überall mit einem strombetriebenen Gerät seine schriftlichen Aufzeichnungen machen. Hups, der Akku ist gerade leer, hast du mal ein Blatt Papier? Danke… *kritzel kritzel*… He, wie lange dauert das denn noch? Kannst du nicht schneller schreiben?
Ich behaupte nicht, dass die Schreibschrift, die wir zwischen 1970 und 1974 (NRW) lernten, die optimale war. Mit Sicherheit hätte es da auch noch Optimierungsmöglichkeiten gegeben. Rückblickend fand ich diese Methode nicht schlecht. Danach kam nur noch Gekrakel.
Ich kann bei all diesem „guinea pig“-Gedä nur den Kopf schütteln. Wir können einerseits froh sein, dass wir die Sütterlin-Schrift hinter uns gelassen haben, aber warum muss es ausgerechnet die Vereinfachte Ausgangsschrift sein?!
Mein Lesefräulein bekommt von mir bald einen schönen Füllfederhalter geschenkt, damit sie ein Schreibgefühl bekommt. Wie schön sich das anfühlt, wenn die Federspitze mit Tinte übers Papier gleitet! Lassen wir uns dieses Schreibgefühl nicht abhandenkommen! Tablets bedienen können wir ja trotzdem, mache ich ja auch, aber deswegen sollten wir nicht Papier und Füller und Tinte der Vergessenheit anheim fallen lassen.
Das Schreiben mit der Hand (Stift) ist anstrengend! Wer Kilometer im Wald rennen kann, weil er sich sportlich betätigen will, der versteht, dass auch das Schreiben trainiert werden muss, sonst ermüden Finger und die Hand zu schnell. Also, schnappen wir uns den Füller und schreiben!
Schreiben ist auch eine Lernhilfe! Durch den Arm ins Gehirn! Wer sich handschriftlich etwas notiert, merkt es sich leichter!
Ja, der Schriftspracherwerb ist eine komplexe Sache. Aus genau diesem Grund muss das Schreibenlernen frühzeitig beginnen und nach der Grundschulzeit größtenteils abgeschlossen sein. Was vielleicht auch funktioniert (ich weiß es nicht, ich habe es noch nicht ausprobiert), ist die Erklärung der Etymologie von Wörtern. Vielleicht erzeugt man damit ein „Ach soooo!!!!“ beim Lerner.
Was ich beim Lesemädchen auch sehen, ist, dass sie eigentlich noch keine Faszination fürs Lesen entwickelt hat. Sie besitzt kaum Bücher, hat keine Kindergeschichten parat. Sie weiß nicht, dass man sich beim Lesen in eine andere Welt versetzen kann. Schade. Was ihr da entgeht, weiß sie gar nicht.
OK, es gibt Berufe, da ist Lesen und Schreiben nicht oberste Priorität… aber besser wär’s schon.