Fahrt über den Piano Grande (Monti Sibillini, Umbrien)

Es ist Karfreitag 2017. Urlaub. Was machen wir heute?

Michael meinte, die Wettervorhersage für eine Tour ins Gebirge sei heute am besten. Also packte ich die Erdbeeren ein und eine Flasche Wasser, die Kamera, Rucksack, Jacke, Sonnenbrille, Reiseführer, Landkarte und was man halt so braucht.

Erste Station: Comunanza. In dem Provinznest kurz vorm Anstieg in die Berge waren wir schon mal. (Leider ließen wir die Tankstelle links liegen. Wenn ich gewusst hätte, auf was wir uns kurze Zeit später einlassen, hätte ich Michael mit vorgehaltener (Eis-)Waffe(l) zum Tanken gezwungen…) Dieses Mal fuhren wir jedoch nach Süden (nicht, wie damals, Richtung Amandola, nach Norden).

Wir kamen an einer Talsperre (Lago di Gerosa) vorbei, hinter der schneebedeckte Berge, nämlich die Sibillinischen Berge (Nationalpark), lockten.

In der Gegend dünnen sich die Dörfer schon ziemlich aus. Ein Schild wies zu einem Dorf namens Serra. Ach, von hier stammt der Richard? Hätte ich gerne fotografiert…, aber wir waren zu schnell dran vorbei. Hier und da mehr oder weniger verlassene Gehöfte. Kaum mal Vieh auf der Weide. Ein Schäfer pferchte gerade seine Schafe ein. An den Böschungen standen Schlüsselblumen, Iris, Raps, Hauswurz (Sempervivum) und all die vielen Frühlingsblüher, die wir nur aus dem Katalog kennen. Ich meinte sogar eine Orchidee gesehen zu haben.

Der Weg führte in Serpentinen weiter bergan. Im Dorf Balzo (Ortsteil von Montegallo = der balzende Berghahn???) etwas oberhalb der Talsperre war ringsherum Ski- und Wandergebiet, das zeigten Gebäude, Wegweiser und Touristentafeln.

Monte Vettore (2478m), Ostflanke (Provinz Marken, an der Grenze zu Umbrien), der höchste Gipfel in dieser Gegend

Wir stellten den Wagen in Balzo an einem durch Holzkonstruktionen und Metallklammern abgestützten Haus ab, gingen zur Talseite und blickten in die herrliche Landschaft – und auf die Hilfscontainer einschließlich farmacia ein paar Meter weiter unten auf dem ehemaligen Fußballplatz. Oje. Das Erdbebengebiet kann nicht mehr weit sein… eigentlich sind wir schon drin.

Die Sonne schien, 19°C. Frieden auf dem Land. Aber was später kam, war schrecklich! Aber wartet… Die Straße machte eine Haarnadelkurve, und eine Ebene weiter war eine Aussichtsplattform, wo sich ein paar Motorradfahrer sonnten, die anscheinend einen Ausflug machten. Wir fuhren weiter.

Am Ortsausgang war links ein Stall mit ein paar lieb dreinblickenden Eseln und einige Kurven später kam der Abzweig nach Castelluccio und dem Piano Grande – nur war die Straße halbseitig gesperrt. Ein Schild besagte, dass nur die Polizei, Hilfsorganisationen und Sicherheitsdienste durchfahren dürften (frana = Erdrutsch):

Tja, zu denen gehörten wir ja nicht. Also machten wir, brav wie wir sind, kehrt. Die Esel schauten gerade über das Stalltor. Wir hielten an. Ich ging hin und streichelte sie. Im Stall machte einer der anderen Esel laute Ur-Laute – Ie-Ah war das aber nicht. Es klang wie umbrischer Eselsdialekt oder kaputte Kreissäge.

Wir fuhren weiter in die Richtung, wo wir hergekommen waren. Es war erschreckend. Am Straßenrand sah man ein paar Häuser, die nicht mehr bewohnbar waren. Ganze Wände waren rausgebrochen, man konnte in die Zimmer schauen. Hier hatte die Serie von Erdbeben 2016 arg gewütet. Michael schien die Fahrt aber zu reizen. Er wollte es nun doch versuchen, weiter ins Gebirge zu fahren. Angesichts des nicht mehr allzu vollen Tanks war ich dagegen, sagte aber, wir gucken, ob die Motorradfahrer noch da sind, die fragen wir dann mal. Sie lagen tatsächlich noch da in der Sonne. Wir stiegen aus. Es waren Italiener, und ich sprach mit einem von ihnen wegen der Situation in den Bergen. Er sagte: „Jaaaa, eigentlich darf da keiner durch, aber wir kommen gerade da her. Die Straßen sind wieder befahrbar, aber man muss schon aufpassen. Es KANN sein, dass ihr angehalten werdet, von der Polizei oder so, aber tut einfach so, als könntet ihr kein Italienisch, dann klappt das schon. Momentan sind die Bauern da oben übrigens die Felder für den Linsenanbau am Vorbereiten. Naja, in Castelluccio ist viel kaputt…“

Castelluccio, das Bergdorf im paradiesischen Nichts der Sibillinischen Berge, mit den kleinen Lädchen, wo man in der Sonne sitzen und Pizza essen kann, dazu einen Rotwein, wo man diese leckere Wurst aus Norcia kaufen kann, Linsen als Mitbringsel… Ach… Da war ich 2004 schon mal. Und das Dörfchen sollte nun Geschichte sein? Ich war skeptisch. Im Fernsehen und im Internet hat man ja viel lesen und sehen können, aber meistens über das gerade mal 40 km entfernt liegende völlig zerstörte Dorf Amatrice, das mal als schönstes Dorf in der Region berühmt war. (Im Internet fand ich später einen Film, ein Flug über das ehemalige Dorf, es ist nichts mehr zu sehen von Häusern oder den Kirchen, nichts. Nur noch grauer Staub. Furchtbar! / Nachtrag 2021: Sie haben aufgeräumt, aber die Altstadt ist immer noch nicht begehbar.) Ich sagte, dass ich eher von einer Fahrt durch die Berge absehen würde. Der Motorradfahrer hob die Schultern und meinte lakonisch, probieren könne man es. „Fahrt doch einfach mal los. Wenn es euch zu schlimm wird, kehrt einfach um.“ Naja, tolle Aussage – und dann fuhren wir tatsächlich wieder los, Richtung Castelluccio. Nun wurde es richtig spannend. Ich wollte Michael doch den Piano Grande (nein, das ist kein Klavier!) zeigen, die große Karst-Hochebene, wo vor Urzeiten mal ein See war und wo heute Linsenfelder sind: Lenticchie di Castelluccio, eine Delikatesse!

Die Straße sah schlimm aus, war aber zu befahren. Es gab ab und zu Risse quer über die Straße. Manchmal gab es keinen Teer, sondern nur Geröll. Auf dem Weg an der Ostseite des Piano Grande fährt man an einem Hang entlang. Was ist denn das für eine Linie? „Halt mal an…“ Ich kletterte ein Stück den Hang hinauf und stand vor einer Spalte, die sich ewiglang hinzog:

Solche durch Erdbebentätigkeiten entstandene Spalten im Gelände nennt man auf Italienisch faglia.

Ich dachte schon, da sei der Hang „ins Rutschen“ gekommen, aber am 21.4.17 habe ich auf Youtube Videos gesehen, wo Geologen erklären, dass dort tektonische Verschiebungen der Erdplatten diesen langen Abbruch im Hang verursacht haben. Beim Zuschauen wird einem mulmig, bedenkt man, dass man da ein paar Tage zuvor noch hergefahren ist… Es kann ja jeden Moment wieder rumpeln. Im Internet liest man nicht nur terremoto, sondern auch sisma. Schisma – die Spaltung? Ah, nee, „Spaltung“ heißt scisma.

Man fährt über die Passhöhe Forca di Presta (ca. 1500 m üNN) und rollt langsam leicht bergab durch eine Engstelle, wo die Hügel etwas nah an die Straße kommen. Wir sahen durch die Lücke auf einmal viel Qualm. Ich fürchtete schon, Castelluccio stünde in Flammen, aber die Bauern machten nur „Brase bröh“, wie bii oos fröher:

Für Nichtsiegerländer: Vegetationsreste werden abgefackelt.

Unser Tank war nun schon ziemlich leer, nur noch zwei Balken auf der Anzeige – aber keine Tankstelle weit und breit (das Navi zeigt sie ja an – wenn es welche gibt). In der Ferne sah man Castelluccio auf der Anhöhe. Auf den Feldern waren einige Traktoren zu sehen. Wo tanken DIE denn??? Und, wie 2004: von blühenden lila und roten Linsenfeldern keine Spur. Schade! Aber das war ja zu verschmerzen, angesichts des sich leerenden Tanks und drohenden Erdbeben… Langsam machte sich Verzweiflung und Mulmigkeit in mir breit. Ich versuchte Michael zur Umkehr zu überreden, aber er hatte sich was in den Kopf gesetzt.

An der Abzweigung unterhalb des sichtlich stark zerstörten Castelluccio

überlegten wir, ob wir die 23 km bis Visso (nach Norden, wo die Erde im Oktober 2016 auch schwer gebebt hatte) oder die 12 km nach Süden Richtung Passhöhe Forca Canapine nehmen sollten. Ich redete mir eine Steigerung der Häufigkeit von Tankstellen ein, wenn wir die kürzere Strecke fahren. Träum weiter… (Internet-Meldung 20.04.2017: Der Architekt Francesco Cellini kümmert sich um den Wiederaufbau von Castelluccio, das im Sommer ja viele Touristen anzieht, und die Kaufleute müssen ihre Läden wieder öffnen können. Das Land stellt 500 Millionen Euro zur Sanierung der Ortschaften und Straßen bereit. Hoffentlich kommt das Geld da auch an!)

2004, Monte Vettore in Wolken gehüllt

Am Westhang zieht sich die Straße SP477 immer höher:

Die Wälder sehen aus, als flösse schwarzes Zeug runter.

und der Zustand der SP477 wurde immer schlimmer. Es sah aus, als hätten die Räumdienste schon kräftig geräumt, man kam ja überall durch. Wie, wenn es im Siegerland heftig geschneit hat und der Schneeräumdienst ist gerade durch – aber das hier sind ja Steine und keine Schneekugeln! Aber es gab viele Stellen mit Querrissen bzw. auch lange Abbrüche des Hangs. Geländer und Leitplanken waren umgedrückt und drohten abzustürzen. Es muss schlimm gewütet haben. Dazu kommt ja auch der Niederschlag in Form von Regen und Schnee. Erdrutsch-Stellen. Es muss ja ein schneereicher Winter gewesen sein (vom Hotel in Farindola, das ca. 60 km weiter südlich von einer Lawine verschüttet wurde und wo es einige Tote gab, wurde in den Medien ja viel berichtet). Schneehaufen gab es auch noch, aber nur noch an ganz wenigen Stellen. Viele Hänge sind mit Stahlnetzen bedeckt, die den Steinschlag abfangen (sollen).

Ein „Bild“ habe ich leider nicht gesehen, weil ich es nicht wusste. An einem Hang ist Italiens Stiefel abgebildet, angepflanzt seit etlichen Jahrzehnten. Ein Wald in Form von Italien. Bilder gibt’s im Internet.

Die Straße führte uns dann auf die andere Hangseite mit Blick nach Westen (Umbrien).

Hinter dem „Rifugio di Perugia“ für Wanderer, das infolge des Erdbebens stark in Mitleidenschaft gezogen worden war…

trotteten plötzlich ein paar große, schwere Pferde auf der Straße bergauf. Wenn man nach Westen, also rechts, runter guckte, brach der Hang steil ab, und mehrere 100 m tiefer, in ein paar Kilometern Entfernung, gab es wieder eine sehr große Ebene mit Ortschaften inmitten von grünen Feldern. Eine davon musste Norcia sein, wo die leckeren Würste hergestellt werden. Oder wurden? Immerhin bebte auch dort die Erde mehrmals sehr stark (bis zu 6,5 auf der Richter-Skala). In der Ferne weitere Bergketten, aber nicht mehr ganz so hoch wie hier. Die Landschaft ist beeindruckend und schön. Durch die Erdbeben wird sich hier touristisch wohl nicht mehr so viel abspielen, wenn man nicht für die nötige Infrastruktur sorgt. Man soll hier tolle Wanderungen und Mountainbike-Touren machen können (es gab Wegweiser für Mountainbiker), aber die meisten Restaurants, Unterkünfte für Wanderer (rifugi) und Wohnhäuser sind komplett zerstört. Wo leben denn die Leute jetzt? Die Passhöhe Forca Canapine liegt auf 1457 m Höhe. Auf Höhe 1400 m (ein Schild zeigte die Höhe an) war der Teer aufgerissen.

Etliche Kilometer weiter (reicht der Sprit in unserer Karre denn noch?), etliche Serpentinen tiefer, auf Höhe 1300 m, stand ein Auto (wie war das denn hier hergekommen, darf dat dat?) und ein Mann saß in der Böschung, als wäre er da am Arbeiten. Er guckte erstaunt hinter uns her. Die Straße wand sich in Serpentinen weiter abwärts. Von oben konnte ich plötzlich eine lange Brücke und einen Tunneleingang sehen! Ah, die Rettung… Aber nein, was war das? Der Tunnel war GESPERRT! Mir klopfte das Herz. Was ist mit der anderen Fahrtrichtung? Nach dem Tankniveau hatte ich schon länger nicht mehr gefragt… Wir standen vor einer Vollsperrung. Durchfahrt verboten. Au weia. Was denn nun? Das hätten sie auch schon viel weiter vorne ausschildern können. Da war ein Schild „ROMA 155 km“, aber da war ja gesperrt.

Die S.S. 655 – Vollsperrung – aus gutem Grund! Die Brücke sah von unten ziemlich renovierungsbedürftig aus.

Das wäre eh die falsche Richtung, aber die andere Richtung zur Adria war ja auch gesperrt. Egal, hier wohnt ja keiner mehr, was braucht man da eine Straße? Na, tolle Wurst aus Norcia. Was machen wir denn jetzt? Erst mal tief Luft holen und nachdenken. Zurück ging nicht, weil die nächste Tankstelle – vermutlich – viel zu weit weg war. Wir MUSSTEN versuchen, nach vorne zu fahren. Ein Mann der Tat: Michael öffnete das Baustellentor und fuhr hindurch. Ich schloss es wieder. Wir fuhren bergab, geradeaus, unter der (ehemaligen) Schnellstraße hindurch.

Ich fing fast an zu hyperventilieren. Was für Sachen machen wir hier eigentlich? Das nächste Dorf in 2 km Entfernung war Capodacqua – Wasserkopf. Benzintopf wäre mir lieber. Aber was wir da sahen, hatten wir noch nie gesehen. Alle Häuser waren komplett zerstört. Es sah aus wie nach einem Bombenangriff. Ein Bügelbrett schaute aus einem Schutthaufen (früher mal ein Wohnhaus) heraus. In einem anderen Schutthaufen lag ein Bett, noch mit Bettzeug drauf. An der Mündung einer Hauseinfahrt in die Straße hatte jemand Hausrat zusammengeworfen, auch einen schönen Spiegel mit Rahmen, mittendurch in zwei Hälften. Mir kamen die Tränen. Fotografieren konnte ich nicht, bin doch keine paparazza. Den Einwohnern war von jetzt auf gleich ihr Heim zerstört worden. Aber… Schau mal! Da sind ja Leute! Die Feuerwehr arbeitete mit mehreren großen und kleinen Fahrzeugen, Bagger räumten den Schutt weg. Große Gesteinsbrocken blockierten die Straße, und wir mussten anhalten. Ich wähnte mich am Ende dell’asta della bandiera und sah mich schon im Auto übernachten, während ich mich am nächsten Morgen per Anhalter irgendwie in die nächste Ortschaft mit Tankstelle schleppte, dort zwei Kanister mit Sprit kaufte und per autostop wieder zurückfuhr. Per Anhalter durch die Abruzzis. Vorher würden wir noch eine saftige Strafe kassieren, weil wir die Verbotsschilder ignoriert hatten. Aber wir mussten gar nicht lange warten (ca. 30 Sekunden), da schob das kleine Baggerchen die Brocken von der Straße, und wir konnten weiterfahren. Vor uns fuhr gerade ein Feuerwehrauto weg, und wir hielten uns dicht dahinter.

Ab und zu konnten wir die Schnellstraßen(brücken) der S.S. 685 (Strada Statale delle Tre Valli Umbre) von unten sehen. Klar, dass die gesperrt war. So baufällig wie die aussah, war ich froh, dass wir da nicht drüber durften (s. oben). [Die Homepage der A.N.A.S. (italienische Straßenbaufirma) schreibt, dass die Straße wegen Bauarbeiten im Januar 2017 in beide Fahrtrichtungen gesperrt wurde. Sie war bereits im Oktober oder November 2016 wegen Erdrutsch zwischen Spoleto und Norcia gesperrt, aber wiedereröffnet worden.] Nach einer kurzen Strecke waren außer uns weitere drei Autos und sogar ein Linienbus auf der Straße. Wir waren jetzt wieder im Tronto-Tal, wo die SS 685 in die SS 4 überging (Via Salaria, die historische Salzstraße zwischen Rom und der Adria!), und ein großes Schild kündigte die nächste AGIP-Tankstelle in 11 km Entfernung an. Na, ob das klappt? Ein paar Meter weiter, nach der nächsten Kurve, tauchte eine ESSO-Tankstelle auf, aber ich winkte ab. „Da stehen doch gar keine Preise auf der Anzeigetafel!“ Michael fuhr trotzdem auf den Tankstellenplatz, nur um festzustellen: Es gab nur noch eine Bar mit Kaffee und Sprit, äh, Spirituosen, aber keinen Sprit für Autos. Also weiterfahren. Der nächste größere Ort sollte Acquasanta Terme sein, Bad Weihwasser – na, wenn das mal kein Zeichen ist! Wir schafften es tatsächlich bis dorthin und tankten erst mal voll. Puh. Geschafft! AGIP – wir reißen uns 6 Beine für Sie aus! Aus lauter Erleichterung beschlossen wir, diesen aufregenden Nachmittag in Ascoli Piceno zu feiern – und zwar im Caffè Meletti. Wir stellten das Auto ins Parkhaus und betraten die Innenstadt von Nordwesten her über die römische Brücke über den tief unten im Tal rauschenden fiume Tronto. Eins der ersten Geschäfte, auf das wir trafen, war eine Olivenbraterei. Die hiesige Spezialität olive ascolane, mit feinem Hack gefüllte dicke Oliven, in Paniermehl gewälzt und frittiert. Saulecker!!! Wir betraten den Laden, und ich bestellte. Die nette Ladeninhaberin sagte, wir sollten zwei Minuten warten, sie mache uns einen cono (Spitztüte) fertig. 10 Oliven 5 €. Klingt teuer, ist es aber nicht, wenn man bedenkt, wie viel Mühe es macht, die herzustellen. Mit Tüte und Piekser in der Hand, bummelten wir Richtung Piazza del Popolo und ließen uns die noch heißen Oliven schmecken. – In der Stadt war viel Betrieb, aber die Stimmung war entspannt. Und ich auch endlich wieder. War schon abenteuerlich, diese Tour.

aperitivo ramerino, ein Weißwein mit Rosmarin-Zweig, dazu ein paar Häppchen – lecker!

Caffè Meletti, wunderschön restauriert im Jugendstil, dort kann man anisetta MELETTI kaufen, einen leckeren Anislikör

Niebüll

In Niebüll gibt es einen Bahnhof. Nichts Ungewöhnliches, meint man, aber hier gibt es einen Service, mit dem der Autofahrer mitsamt seinem Auto per Zug zur Insel Sylt gefahren wird. Das ist aber hier nicht das Thema, auf das ich hinaus will. Ich war Weihnachten 2023 Übernachtungsgast am Bahnhof Niebüll. Naja, nicht so ganz. Nicht im Wartesaal, nein! Nur ein paar Schritte vom Bahnhofsgebäude entfernt steht der alte Wasserturm, der zu Dampflok-Zeiten dazu diente, die Lokomotiven mit Wasser zu befüllen – weil: ohne Wasser nix Dampf und auch nix Fortbewegung!

Auf der Suche nach einer Übernachtungsmöglichkeit erwog ich die Küste. Da gibt es Dagebüll. Das ist ein altes Städtchen, das in den letzten Jahren einen touristischen Aufschwung hingelegt hat, der sich sehen lassen kann. OK, schau mal weiter… Südwesthörn… mit Meerblick – na gut, wer es einsam und verlassen mag…

Dann gibt’s ja noch Flensburg, auf der östlichen Seite des Festlands – da ist zwar mehr los und es gibt auch mehr Übernachtungsmöglichkeiten, aber… dann muss man ja immer, wenn man was in Niebüll zu schaffen hat (und das war so!), immer 40 km hin und wieder her fahren. Also Niebüll. Was gibt’s denn da so? Ah ja. Die üblichen Verdächtigen. Aber… was ist denn das? Einen Wasserturm? Und kein Trinkwasserturm? Nein! Bahn.

Anfrage gestartet, Zusage bekommen – hurra! Am ersten Weihnachtstag fuhr ich also los (ok, ich war nicht allein, M. war mit und freute sich genau so wie ich auf diese nicht alltägliche Unterkunft). Wir durchquerten halb Deutschland – Richtung Nordpol, aber kurz vorher links abbiegen, bitte! Zum Glück war nicht allzu viel Verkehr, und wir kamen gut durch. Das Wetter wurde auch immer besser, je weiter nördlich wir vorankamen. Problemlos fanden wir das Insel-Hotel (warum „Insel“? hier ist kein Wasser ringsum!) in der Nähe des Bahnhofs, checkten ein und bekamen den Turm-Schlüssel ausgehändigt. Parken konnten wir unseren Wagen direkt am Turm, direkt am Bahnhof. Luxus! Aber dann… Türe auf – und was sehen wir: eine Treppe! Jaja, bis zum Bett muss man sportliche 51 Stufen erklimmen! Dafür wird man aber auch mit einer tollen Rundum-Sicht belohnt. Der Bahnhof liegt einem zu Füßen, und man kann den Sylt-Touristen winken. Oder auch nicht. So bekannt scheint der Wasserturm als Feriendomizil nicht zu sein. Die Züge mit den personenbesetzten Autos auf den Waggons rollen am Turm vorbei, aber kaum jemand guckt rüber.

Der Turm ist ein historisches Gemäuer – mehr dazu auf diversen Internet-Seiten (Suchmaschinen helfen). Nur so viel: der gut belüftete, jedoch dadurch nicht gut beheizbare Duschraum und das WC befinden sich im Erdgeschoss, ab da hilft nur Klettern. Und immer schön dran denken: Handtücher und Klamotten mitnehmen! Sonst gibt’s extra Sport-Einheiten.

Im ersten Stock befindet sich ein Schreibtisch, auf dem das Gästebuch auf freundlich-begeisterte Einträge wartet. Im zweiten Stock – man sieht viel rohes Gemäuer und eine rostig-historische Rohrleitung – befindet sich ein Sitzmöbel, das sich, wenn man sich ein bisschen in der Szene auskennt, von einer renommierten Designer-Sitzmöbel-Firma stammt und einen gewissen Kultstatus besitzt (kleines Ratespiel: Zyklus ist nicht nur ein Kreislauf, sondern auch ein Sitzmöbel, und das von einem Hersteller, dessen Firmenname etwas mit HERZ zu tun hat!) sowie eine knallrote Kühlbox (für Wasser, Wein, Obst, Käse…) – und in der dritten Etage ist man dann unterm Dach, sozusagen, und hat den perfekten Rundum-Blick auf Bahnhof, Kirche, Dorf.

Nein, das Meer sieht man von hier aus nicht, das ist noch ca. 12 km entfernt. Dahin gelangt man mit der NEG-Kleinbahn, der Bahnhof ist gleich gegenüber dem Bahnhof.

Nun, es war der erste Weihnachtstag, und um diese Jahreszeit wird es im Norden schon früh dunkel – um zwanzig nach 4 ungefähr. Bei Dunkelheit ist der Wasserturm romantisch angestrahlt:

Wir zogen uns warme Jacken an und suchten den Weg ins Zentrum. Das war nicht schwer: Wegweiser halfen uns dabei. An der Kirche vorbei (oder über den Kirchhof) und immer der Nase nach… Geöffnete Lokalitäten gab es allerdings nicht. Alles war im Feiertagsmodus, außer der Bahnhofsgaststätte, wo nicht nur wir dann, nach unserem Spaziergang, auch fündig wurden: Belegte Brötchen, Brezen, Bierchen… was braucht man mehr!?

Der Turm ist im Obergeschoss mit einer kleinen Küche ausgestattet. Ein kreisrundes Spülbecken, ein kleines Ceran-Kochfeld, Geschirr… und auf der Fensterbank harren Toaster, Wasserkocher und Kaffeemaschine ihrer Nutzung. Internet-Zugang, Fernsehgerät, Lesestoff, DVD – alles da!

Ach, ihr wollt noch weitere Bilder?

Ja, man ist dicht dran am Geschehen. Aber keine Sorge, der Turm ist gut schallgedämmt, so dass man von dem Zugverkehr nicht viel mitbekommt. Wenn auf dem nächstgelegenen Gleis ein Zug vorbeifährt, gleich hinter dem Dusch-Raum übrigens, vibriert der Turm ein bisschen, aber die paar Sekunden ist das zu verschmerzen. Und überhaupt: Echte „Isebahnsbähner“, wie wir beide es sind (zumindest von den Vorfahren her), können das ab.

Wenn einem klargeworden ist, dass man keine Geisterstimmen hört, wenn der Bahnhofsansager gerade die Züge ankündigt, kann man das Geräusch abhaken, und fortan achtet man nicht mehr drauf. Was ein bisschen irritierend sein kann, ist der Wind. Bei stürmischem Wetter heult der Wind. Aber das sollte einen beim Einschlafen nicht stören – im Gegenteil. Der Turm hat schon so manche Windstärke ausgehalten.

Was noch? Hilfreich ist es, ein Knippchen (für Nichtsiegerländer: ein scharfes Küchenmesserchen) mitzunehmen und eine Steckdosenleiste mit Verlängerungskabel, für alle Fälle der heutzutage mitgeschleppten Gerätschaften. Hilfreich wäre auch eine Klemmlampe für die Lesewilligen, denn die Leselampe lag unangeschlossen im Regal. Ansonsten alles gut. Ach ja, die Sitzmöbel in der obersten Etage sind auch Design-Klassiker: Vier bunte Vitra-Stühle um einen runden Tisch hellen die Stimmung auf, wenn’s mal regnet. Oder qualmt… denn am zweiten Weihnachtstag wurden wir von lautem und andauerndem Tatü-Tata geweckt. Als dann noch die Warn-App das Handy brummen ließ, wurde ich doch mal neugierig: ohauehaueha, es brennt! Nördlich des Turms, gar nicht weit weg, war eine dunkelgraue Rauchwolke zu sehen, die der Wind nach Osten verwehte. Man sah sogar Flammen hochschlagen! Was ist da los? Leider war eine Lagerhalle eines Landmaschinenhändlers in Brand geraten, das ist nicht nur an Weihnachten schlimm – und selbst am Nachmittag, als wir einen Ausflug an die Küste machen wollten, mussten wir noch einen kleinen Umweg fahren, weil die Feuerwehr die Hauptstraße gesperrt hatte.

Und Bubu findet das auch ganz interessant.

Also, wer mal was ganz Unübliches als Quartier haben möchte, ist hier gut aufgehoben. In Niebüll, so klein, wie es auch ist, gibt es alles, was man braucht. Und zum Meer ist es nicht weit. Nach Dänemark ist es nicht weit und nach Flensburg fährt man eine gute halbe Stunde.

VIENTO TERRAL im Jazzclub OASE

Was weht denn da für eine steife Brise durch den Jazzclub Oase? Die Kölner Band Viento Terral (“Ablandiger Wind”, Begriff aus der Seefahrersprache) legte am 24. November 2023 im Siegener LYZ an und holte vor leider nicht einmal 40 Zuschauern den Salsa aus seiner verstaubten Mottenkiste.

Salsa ist Spanisch und bedeutet “Sauce, Gemisch”, und so klingt es auch, aber fein abgeschmeckt. Die Basis-Instrumente der Salsa (“la salsa = die Sauce”) sind die Conga und die Claves, andere Instrumente wie z. B. die Campana (Glocke), Maracas (Rasseln), Guiro (Gurke) etc. können auch eingesetzt werden. Wer mehr über den komplexen Rhythmus wissen will, schaue sich beispielsweise diese Homepages an:

https://salsa-bremen.net/sites/salsa/salsa-rhytmus.php
https://www.salsa-berlin.de/was-ist-salsa/

Je hochkarätiger die Musik und die Musiker, je mehr Riffs und Notenwerte pro Zeiteinheit, desto weniger Zuschauer, scheint mir. Wo waren die ganzen Salsatänzer, die sich sonntagsabends im Salsa-Schuppen die Hacken abtanzen, bis “El Tiburon”, der Hai, atemlos zur Bachata-Bar japst, und doch nie genug von Salsa bekommen können?
Zugegeben: Salsa allein ist ja schon eine Rhythmik-Nummer für sich. Aber den “Viento Terral”-Köchen reicht die pure Salsa nicht, obendrauf kommt noch eine gehörige Kelle Jazz. In einem Jazzclub kann und muss man Jazz erwarten, auch wenn “nur” Salsa angekündigt ist. Wer nur schlichte Gerichte im 3/4- oder 4/4-Takt gewohnt ist, den bringen 7/8-Speisenfolgen oder gar 13er Patterns möglicherweise aus dem Re… Konzept, und obendrein sind die Stücke aufgebaut wie Menüs, das heißt hier, Tempo und Art des Rhythmus ändern sich im Laufe eines Stücks manchmal ziemlich abrupt, und ein neues Soßenpäckchen wird geöffnet, ein neuer Gang wird serviert.

Thomas Böttcher, Wahl-Kölner und studierter Pianist mit Lehrauftrag an der Codarts Rotterdam, behauptete zwar, Musik machen sei ja eigentlich eine unproduktive Tätigkeit, aber das war nur ein Spaß. Er und seine vier Kollegen – Daniel Hahnfeld, Andy Hunter, Sebastian Nickoll und Camilo Villa – kennen sich teilweise aus Rotterdam und sie kennen sich aus. Sie spielen schon seit vielen Jahren in dieser und anderen Latin-Formationen. Andy Hunter ist hauptberuflich Posaunist bei der grammydekorierten WDR Bigband, aber bei Viento Terral stecke “ganz viel von mir drin”, sagte der gebürtige US-Amerikaner aus Michigan.

Wer Titel wie “Auf Streife mit einem holzbeinigen Polizisten” (“Walking a beat with a peg-legged policeman” auf dem Album “Eh’ Neeky!”) erfindet, muss ein sonniges Gemüt haben. Thomas Böttcher erklärte, dass das Schwierigste an ihrem Projekt das Ersinnen von Musiktiteln für die Kompositionen (60 % Böttcher, 40 % Hunter) sei. “Alles andere ist Peanuts”, als wäre das Komponieren beim Strandspaziergang in Havanna passiert und das Musizieren solch hochkomplexer Rhythmen ein entspannter Zeitvertreib am Musikpavillon auf Cayo Coco. Thomas Böttcher fand die richtigen Tasten zum richtigen Zeitpunkt, ohne einen Blick auf die Tasten zu werfen. Man fühlte sich bei der Musik an berühmte kubanische Klaviervirtuosen wie z. B. Ruben Gonzáles erinnert. Böttchers kubanische Begleit-Patterns bildeten mal das Fundament, mal spielte er ein virtuos-jazziges Solo, mal traumhaft balladesk. Leckere Düfte aus der cocina cubana

Die Schlagwerker Sebastian Nickoll (Congas) und Daniel Hahnfeld (Timbales, Kuhglocke & Co.) trieben sich im Duo gegenseitig so an, dass man nicht mehr wusste, wo die Eins im Takt ist. Dabei wechselten sie Blicke, die angesichts dieser hochkomplexen Rhythmen ziemlich entspannt und gut drauf wirkten.
Das Wort Conga stammt übrigens möglicherweise vom Bantu-Wort nkónga ab, das „Nabel“ oder „Nabelschnur“ bedeutet, weiß Wikipedia. Ein Conga-Spieler verwendet üblicherweise zwischen zwei und fünf Trommeln, Nickoll hatte drei vor sich (macho, mujer und…?), seine Beine umklammerten die mittlere, auf dass sie nicht wegrutsche, und seine nicht durch Bandagen geschützten Hände/Finger (!) bearbeiteten die Congas. Eine schweißtreibende Angelegenheit! Nickoll wird auch schon mal von der WDR Bigband engagiert, im September 2022 zum Beispiel beim Konzert mit der jungen spanischen Posaunistin Rita Payés (Videos auf YouTube).

Bassist Juan Camilo Villa aus Kolumbien, ebenfalls an der Codarts ausgebildet und mit Folkwang-Preis dekoriert, ist der einzige Südamerikaner in dieser Band. Seine Basslinien und Soli zeugen von hoher Fingerfertigkeit und kunstvoller Ausarbeitung. Ob als Solist oder beim rhythmischen Background, spielt dabei keine Rolle. Auch er hat schon mit den deutschen Rundfunk-Bigbands gespielt.

Andy Hunter, befreit von allen Zwängen eines Bigband-Mitglieds, blies auf seiner kürzlich generalüberholten Posaune, deren Zugmechanik er ab und zu mit Wasser oder einem Spray gängig hielt, presste enorm tiefe Töne heraus und quietschte bis in die höchsten Register – und alles dazwischen natürlich auch. Jazzposaunisten pflegen einen wunderbar weichen Ansatz beim Spielen. Man merkte, dass ihm die Salsa eine unbändige Energie verleiht, die er in sein Spiel legt. Bei einem Stück präsentierte er eine Melodica, was dem “Ablandigen Wind” einen seemännischen Sound verpasste, klang sie doch ein bisschen wie… ja: Schifferklavier.

Zum guten Schluss war das Repertoire ausgespielt, nun wurde improvisiert. Kein Problem für Jazzies. Kurz vor der Adventszeit zauberte ein kubanisch angehauchtes “Jingle Bells” den Zuhörern glänzende Augen ins Gesicht, bevor sie den Heimweg antraten.

Kommt ein blinder Pianist auf die Bühne und jammert: “Der Flügel ist ja ganz verstaubt! Nächstes Mal bitte eine Staub-Klausel in den Vertrag!” (Kein Scherz… Thomas ist des Sehens nicht mächtig, aber kann herrlich Witze drüber machen. Und spielt wie ein kölscher Kubaner!)

www.viento-terral.com

www.thomasboettchermusic.com

www.jcamilovilla.com

Über alle Musiker kann man im Internet noch mehr lesen und sich Videos anschauen! Suchmaschine – und los geht’s!

(Nachtrag: Thomas, der Pianist, verriet mir in einem Gespräch noch den Unterschied zwischen Salsa und der Musik von Viento Terral: Salsa kommt immer mit Gesang!)

Belli Fischer Rimmer, Hilchenbach-Dahlbruch

Ein Trio musiziert Lieder ohne Worte.
In Dahlbruch.
In einer „Event Location“ im Umbau.
An einem nieseligen Dienstagabend Ende Oktober.

Belli Fischer Rimmer. Hm. Kennt keiner? Merkt man. Macht aber nichts. Das versprengte Häufchen Zuschauer verliert sich im Parkett des Theaters (heute „Freie Platzwahl“), scheint neugierig zu sein, was es dort zu hören und zu sehen gibt. Sogar einer der “Tieftöner” der PhilSW ist gekommen.

Und so fährt man halt hin. Und ist perplex, was es alles gibt. Mendelssohn-Bartholdy jedoch nicht, wie man vielleicht aufgrund “Lieder ohne Worte” meinen könnte.

Die Organisatoren hinter der kleinen, aber feinen Bühne in Hilchenbach-Dahlbruch, die mal Kino, mal Konzertbühne ist, haben ein Händchen dafür, exzellente Musik ins Dorf zu holen. Warum das kaum jemanden interessiert? Ich weiß es nicht. Schade ist es allemal. Ich vermute, die meisten Couch Potatoes interessieren sich eh nur für einen muckeligen Abend zu Hause mit Helene Fischer oder Fernsehen. Tja. Kann man machen, muss man aber nicht.

Dabei sind die drei mit dem Look von 16Jährigen aus den 1980er Jahren gestandene Profis: Frederic Belli an der Posaune, Nicholas Rimmer am Flügel und Johannes Fischer, der Percussionist – alle haben bereits eine solide Musikerkarriere hinter sich, haben Professuren an renommierten Musikhochschulen in Deutschland bzw. sind Solo-Musiker in einem großen Symphonieorchester. Oder beides. Auf jeden Fall sind sie kreative Sucher nach neuen Sounds, sie erzählen Geschichten, für die man weder Worte noch Fernseher braucht, und wer meint, dass das für einen nebligen Dienstagabend ZU komplex ist, der hat – mit Verlaub – keine Ahnung.
Das Siegerland steckt voller Profi- und Hobbymusiker, und man fragt sich, warum auch aus diesen Reihen kaum mal jemand zu solchen Konzerten kommt. Die freuen sich doch auch, wenn sie Zuschauer haben.
Wenn man mit Leuten spricht, erfährt man zwar, dass man durchaus schon mal nach Köln oder Dortmund fährt, um in die Philharmonie oder in die Oper zu gehen oder in die Lanxess Arena mit fünfstelligen Zuschauerzahlen, aber kommen die Stars in die Region, bleibt man lieber zu Hause? Merkwürdig. Klein = unwichtig?

Das Konzertprogramm bestand aus einer Auswahl von Stücken von Tom Waits, Kurt Weill und – erstaunlich! – Franz Schubert. Was haben die drei denn miteinander gemein? Auf den ersten Blick nichts. Sie sind zu völlig unterschiedlichen Zeitaltern geboren (1949, 1900 und 1797) und verfolgten entsprechend unterschiedliche Musikrichtungen. Weill war  Opernkomponist, der zunächst in Deutschland wirkte und später in die USA emigrieren musste, weil böse Kerle mit seinem Schaffen, höflich ausgedrückt, nichts anfangen konnten. Waits hat zwar denselben Anfangsbuchstaben im Nachnamen wie Weill, aber er tummelte sich im Blues, Rhythm’n’Blues, Jazz, Folk und Rock. Und dann seine Stimme… grummelnd und knarzig und unverwechselbar (so klang das Trio übrigens auch streckenweise, aber nur kurz 😉 Schubert war ein Vielschreiber: über 600 Lieder, 8 Sinfonien, diverse Klaviermusiken, Kammermusik für verschiedene Besetzungen, Opern, Messen – der Mann muss einen unglaublichen Durchsatz an Papier und Stiften gehabt haben! Äh, Schreibfedern…?

Unsere drei Musiker besitzen eine geniale Kreativität, um Stücke dieser Herren miteinander in Verbindung zu bringen. Vom Jockey, der, randvoll mit Bourbon abgefüllt, umherwankt, über Weills „Abschiedsbrief“ und Schuberts „Nacht und Träume“ – alles Titel, die nicht gerade die ersten Plätze der aktuellen Charts belegen. Frederic Belli hat einen wunderbar weichen Ansatz, wenn er die Posaune bläst, brettert notfalls drauflos, zieht die Töne ellenlang oder dämpft den Schalltrichter geschickt mit verschiedenen Einsätzen und lässt den Atemstrom durch die Metallröhre bis ins Unendliche auskleckern, wobei man sich fragt, woher er diesen langen Atem nimmt und ob er vielleicht die bei Saxophonisten oft verwendete Zirkularatmung einsetzt. Man muss schon die Ohren spitzen, um die letzten Grunztöne mitzukriegen, so leise kann eine Posaune tröten. Laut können die drei Musiker aber genausogut: Es kracht, scheppert und grummelt, jeder haut rein, wie es ihm gerade zupass kommt, so dass man unwillkürlich anfängt zu grinsen. Hört ja gleich wieder auf, diese “affreuse cacophonie”. Ein bisschen Spaß muss ja auch sein.

Das Klavier, mit Nicholas Rimmer, scheint anfangs etwas unterrepräsentiert, das hat aber anscheinend mit dem Musikstück zu tun, denn im Laufe des Abends bekommt es die Lautstärke, die es braucht. Rimmer bearbeitet nicht nur die Tasten, sondern er fingert auch mal im Klangkasten und zupft an den Saiten oder klimpert auf einem schwarzen Kleinklavier, das er neben sich aufgebaut hat (leider sieht man nur die Rückseite). Hat noch einer ein Bontempi-Kinderklavier auf dem Ollern?

Ganz große Klasse bietet den Zuschauern der Percussionist Johannes Fischer, gebürtig aus Leonberg in Baden-Württemberg. Ihn hat es an die Ostsee verschlagen, denn dort hat er eine Professur an der Lübecker Musikhochschule bekommen. Wer kann dazu schon NEIN sagen! Er wohnt in einem kleinen Ort nahe der Küste, und seine Nachbarn versorgen ihn unermüdlich mit allerlei Klangkörpern wie Rasseln, Pfeifchen, Quietscheentchen und dem lummeligen Gummiadler, der kopfüber zusammen mit ein paar anderen Gummitieren an einem Stahlgalgen hinter dem Instrumentarium aus Vibraphon und einer Trommelsammlung baumelt. Fischer ist ein begnadeter Rhythmiker und spielt mit seinen Instrumenten wie ein Kind. Er beklöppelt die Bass Drum mit dem Fuß, wobei die Trommel hinter dem Fuß steht und nicht, wie sonst üblich, vor dem Fuß. Eine besonders passende Kombination ist das „Heidenröslein (D.257)“ von Schubert, auf das Tom Waits‘ „Trampled Rose“ folgt. Die zertrampelte Rose von zwei Komponisten, zwischen denen locker 150 Jahre liegen – auf so eine Idee muss man erst mal kommen. Das immer beliebter werdende Xylophon setzt zart klingelnde Töne im oberen Register.

Das Publikum verkneift sich schnell den Endapplaus, denn man weiß nie, ob das wirklich schon das Ende des Stücks war. Die Stücke gehen fließend ineinander über.

Die gesamte Musik der drei Kollegen ist in keine Schublade zu stecken. Belli jammert anfangs ein bisschen, dass Posaunisten es schwerhaben, als Orchestermusiker überhaupt mal die Gelegenheit zu bekommen, eine Melodie zu spielen, und aus diesem Grunde spiele er in diesem Trio, denn hier kämen ja viel mehr Melodiegelegenheiten vor.

Das erste Set gerät etwas kurz, und man hofft inständig, dass nach der Pause noch viel mehr geboten wird, denn man wird von der Musik ergriffen. Wie der Vorsitzende des Gebrüder-Busch-Kreises, Olaf Kemper, eingangs sagte: Musik ist Balsam für Leib und Seele, man könne sich glatt das Wellness-Wochenende im Sauerland sparen, wenn man einfach ein Konzert besuchen würde. Der Trick ist offensichtlich noch nicht so bekannt im nördlichen Siegerland. Nun, man kann ja das eine tun und das andere auch nicht lassen…

Das zweite Set ist wieder eine bunte Mischung aus Stücken der drei zuvor genannten Komponisten. Dahlbruch ist überhaupt eine ganz besondere Bühne für mich: Erst zwei Mal im Leben habe ich Musik von Steve Reich (*1936) live hören dürfen, und ausgerechnet jedes Mal hier! Einmal mit ESEGESI, die Reichs “Mallet Quartet for two marimbas and two vibraphones” spielten. Schwindelerregend und “fast quasi unspielbar”, nur Spezialisten können das! Auch Belli-Rimmer-Fischer streuten Elemente von Steve Reich ein.
Auch ein Megaphon kommt zum Einsatz. Nicht alltäglich in einem “normalen” Konzert. Es soll Percussionisten geben, die knisternde Plastiktütchen als Instrument verwenden… ich könnte Namen nennen. Ein rasantes, scheinbar nicht enden wollendes Schlagzeug-Solo von Johannes Fischer nimmt die Zuschauer in den Bann, man fiebert regelrecht mit, wann denn nun der arme Gummiadler wieder zum Quietschen animiert wird.
Die begeisterten Zuschauer applaudieren so kräftig, dass die Künstler nicht umhinkommen, noch zwei Zugaben zu spielen. Die erste ist „wohl das schönste Liebeslied der Welt“, nämlich „Ruby’s Arms“ von Waits, und tatsächlich schleichen sich ein paar Tränen der Rührung über die Wangen, so zerbrechlich und zauberhaft ist das Lied in der Interpretation der drei Genialitäten. Man hört Bellis weich klingende Posaune und denkt an Waits‘ tiefe, kratzig-rauchige Stimme – was für ein Kontrast!

Das war wieder ein musikalisches Highlight auf meiner Best-of-Liste!