Ein Trio musiziert Lieder ohne Worte.
In Dahlbruch.
In einer „Event Location“ im Umbau.
An einem nieseligen Dienstagabend Ende Oktober.
Belli Fischer Rimmer. Hm. Kennt keiner? Merkt man. Macht aber nichts. Das versprengte Häufchen Zuschauer verliert sich im Parkett des Theaters (heute „Freie Platzwahl“), scheint neugierig zu sein, was es dort zu hören und zu sehen gibt. Sogar einer der “Tieftöner” der PhilSW ist gekommen.
Und so fährt man halt hin. Und ist perplex, was es alles gibt. Mendelssohn-Bartholdy jedoch nicht, wie man vielleicht aufgrund “Lieder ohne Worte” meinen könnte.
Die Organisatoren hinter der kleinen, aber feinen Bühne in Hilchenbach-Dahlbruch, die mal Kino, mal Konzertbühne ist, haben ein Händchen dafür, exzellente Musik ins Dorf zu holen. Warum das kaum jemanden interessiert? Ich weiß es nicht. Schade ist es allemal. Ich vermute, die meisten Couch Potatoes interessieren sich eh nur für einen muckeligen Abend zu Hause mit Helene Fischer oder Fernsehen. Tja. Kann man machen, muss man aber nicht.
Dabei sind die drei mit dem Look von 16Jährigen aus den 1980er Jahren gestandene Profis: Frederic Belli an der Posaune, Nicholas Rimmer am Flügel und Johannes Fischer, der Percussionist – alle haben bereits eine solide Musikerkarriere hinter sich, haben Professuren an renommierten Musikhochschulen in Deutschland bzw. sind Solo-Musiker in einem großen Symphonieorchester. Oder beides. Auf jeden Fall sind sie kreative Sucher nach neuen Sounds, sie erzählen Geschichten, für die man weder Worte noch Fernseher braucht, und wer meint, dass das für einen nebligen Dienstagabend ZU komplex ist, der hat – mit Verlaub – keine Ahnung.
Das Siegerland steckt voller Profi- und Hobbymusiker, und man fragt sich, warum auch aus diesen Reihen kaum mal jemand zu solchen Konzerten kommt. Die freuen sich doch auch, wenn sie Zuschauer haben.
Wenn man mit Leuten spricht, erfährt man zwar, dass man durchaus schon mal nach Köln oder Dortmund fährt, um in die Philharmonie oder in die Oper zu gehen oder in die Lanxess Arena mit fünfstelligen Zuschauerzahlen, aber kommen die Stars in die Region, bleibt man lieber zu Hause? Merkwürdig. Klein = unwichtig?
Das Konzertprogramm bestand aus einer Auswahl von Stücken von Tom Waits, Kurt Weill und – erstaunlich! – Franz Schubert. Was haben die drei denn miteinander gemein? Auf den ersten Blick nichts. Sie sind zu völlig unterschiedlichen Zeitaltern geboren (1949, 1900 und 1797) und verfolgten entsprechend unterschiedliche Musikrichtungen. Weill war Opernkomponist, der zunächst in Deutschland wirkte und später in die USA emigrieren musste, weil böse Kerle mit seinem Schaffen, höflich ausgedrückt, nichts anfangen konnten. Waits hat zwar denselben Anfangsbuchstaben im Nachnamen wie Weill, aber er tummelte sich im Blues, Rhythm’n’Blues, Jazz, Folk und Rock. Und dann seine Stimme… grummelnd und knarzig und unverwechselbar (so klang das Trio übrigens auch streckenweise, aber nur kurz 😉 Schubert war ein Vielschreiber: über 600 Lieder, 8 Sinfonien, diverse Klaviermusiken, Kammermusik für verschiedene Besetzungen, Opern, Messen – der Mann muss einen unglaublichen Durchsatz an Papier und Stiften gehabt haben! Äh, Schreibfedern…?
Unsere drei Musiker besitzen eine geniale Kreativität, um Stücke dieser Herren miteinander in Verbindung zu bringen. Vom Jockey, der, randvoll mit Bourbon abgefüllt, umherwankt, über Weills „Abschiedsbrief“ und Schuberts „Nacht und Träume“ – alles Titel, die nicht gerade die ersten Plätze der aktuellen Charts belegen. Frederic Belli hat einen wunderbar weichen Ansatz, wenn er die Posaune bläst, brettert notfalls drauflos, zieht die Töne ellenlang oder dämpft den Schalltrichter geschickt mit verschiedenen Einsätzen und lässt den Atemstrom durch die Metallröhre bis ins Unendliche auskleckern, wobei man sich fragt, woher er diesen langen Atem nimmt und ob er vielleicht die bei Saxophonisten oft verwendete Zirkularatmung einsetzt. Man muss schon die Ohren spitzen, um die letzten Grunztöne mitzukriegen, so leise kann eine Posaune tröten. Laut können die drei Musiker aber genausogut: Es kracht, scheppert und grummelt, jeder haut rein, wie es ihm gerade zupass kommt, so dass man unwillkürlich anfängt zu grinsen. Hört ja gleich wieder auf, diese “affreuse cacophonie”. Ein bisschen Spaß muss ja auch sein.
Das Klavier, mit Nicholas Rimmer, scheint anfangs etwas unterrepräsentiert, das hat aber anscheinend mit dem Musikstück zu tun, denn im Laufe des Abends bekommt es die Lautstärke, die es braucht. Rimmer bearbeitet nicht nur die Tasten, sondern er fingert auch mal im Klangkasten und zupft an den Saiten oder klimpert auf einem schwarzen Kleinklavier, das er neben sich aufgebaut hat (leider sieht man nur die Rückseite). Hat noch einer ein Bontempi-Kinderklavier auf dem Ollern?
Ganz große Klasse bietet den Zuschauern der Percussionist Johannes Fischer, gebürtig aus Leonberg in Baden-Württemberg. Ihn hat es an die Ostsee verschlagen, denn dort hat er eine Professur an der Lübecker Musikhochschule bekommen. Wer kann dazu schon NEIN sagen! Er wohnt in einem kleinen Ort nahe der Küste, und seine Nachbarn versorgen ihn unermüdlich mit allerlei Klangkörpern wie Rasseln, Pfeifchen, Quietscheentchen und dem lummeligen Gummiadler, der kopfüber zusammen mit ein paar anderen Gummitieren an einem Stahlgalgen hinter dem Instrumentarium aus Vibraphon und einer Trommelsammlung baumelt. Fischer ist ein begnadeter Rhythmiker und spielt mit seinen Instrumenten wie ein Kind. Er beklöppelt die Bass Drum mit dem Fuß, wobei die Trommel hinter dem Fuß steht und nicht, wie sonst üblich, vor dem Fuß. Eine besonders passende Kombination ist das „Heidenröslein (D.257)“ von Schubert, auf das Tom Waits‘ „Trampled Rose“ folgt. Die zertrampelte Rose von zwei Komponisten, zwischen denen locker 150 Jahre liegen – auf so eine Idee muss man erst mal kommen. Das immer beliebter werdende Xylophon setzt zart klingelnde Töne im oberen Register.
Das Publikum verkneift sich schnell den Endapplaus, denn man weiß nie, ob das wirklich schon das Ende des Stücks war. Die Stücke gehen fließend ineinander über.
Die gesamte Musik der drei Kollegen ist in keine Schublade zu stecken. Belli jammert anfangs ein bisschen, dass Posaunisten es schwerhaben, als Orchestermusiker überhaupt mal die Gelegenheit zu bekommen, eine Melodie zu spielen, und aus diesem Grunde spiele er in diesem Trio, denn hier kämen ja viel mehr Melodiegelegenheiten vor.
Das erste Set gerät etwas kurz, und man hofft inständig, dass nach der Pause noch viel mehr geboten wird, denn man wird von der Musik ergriffen. Wie der Vorsitzende des Gebrüder-Busch-Kreises, Olaf Kemper, eingangs sagte: Musik ist Balsam für Leib und Seele, man könne sich glatt das Wellness-Wochenende im Sauerland sparen, wenn man einfach ein Konzert besuchen würde. Der Trick ist offensichtlich noch nicht so bekannt im nördlichen Siegerland. Nun, man kann ja das eine tun und das andere auch nicht lassen…
Das zweite Set ist wieder eine bunte Mischung aus Stücken der drei zuvor genannten Komponisten. Dahlbruch ist überhaupt eine ganz besondere Bühne für mich: Erst zwei Mal im Leben habe ich Musik von Steve Reich (*1936) live hören dürfen, und ausgerechnet jedes Mal hier! Einmal mit ESEGESI, die Reichs “Mallet Quartet for two marimbas and two vibraphones” spielten. Schwindelerregend und “fast quasi unspielbar”, nur Spezialisten können das! Auch Belli-Rimmer-Fischer streuten Elemente von Steve Reich ein.
Auch ein Megaphon kommt zum Einsatz. Nicht alltäglich in einem “normalen” Konzert. Es soll Percussionisten geben, die knisternde Plastiktütchen als Instrument verwenden… ich könnte Namen nennen. Ein rasantes, scheinbar nicht enden wollendes Schlagzeug-Solo von Johannes Fischer nimmt die Zuschauer in den Bann, man fiebert regelrecht mit, wann denn nun der arme Gummiadler wieder zum Quietschen animiert wird.
Die begeisterten Zuschauer applaudieren so kräftig, dass die Künstler nicht umhinkommen, noch zwei Zugaben zu spielen. Die erste ist „wohl das schönste Liebeslied der Welt“, nämlich „Ruby’s Arms“ von Waits, und tatsächlich schleichen sich ein paar Tränen der Rührung über die Wangen, so zerbrechlich und zauberhaft ist das Lied in der Interpretation der drei Genialitäten. Man hört Bellis weich klingende Posaune und denkt an Waits‘ tiefe, kratzig-rauchige Stimme – was für ein Kontrast!
Das war wieder ein musikalisches Highlight auf meiner Best-of-Liste!